Sinnsuche

Mit meinen Eltern und meinen zwei Brüdern wuchs ich in einer Kleinstadt bei München auf. Ich hatte eine glückliche Kindheit verbracht. Meine Eltern, die beide leidenschaftliche Bergsteiger sind, haben sehr früh meine Begeisterung für die Berge geweckt. Dadurch war ich oft in der Natur und habe dort auch viele Erfahrungen mit mir selbst gemacht. So hatte ich mit siebzehn Jahren schon so einiges erlebt: extreme Klettertouren im senkrechten Fels, Eistouren im Hochgebirge und auch ein mehrtägiges Fasten allein in einer Berghöhle. Ich war auf der Suche nach etwas. Ich hatte immer das Gefühl, daß es noch etwas ganz besonderes geben muß. Etwas, das meinem Leben einen tiefen, wirklichen Sinn gibt.

Eines Tages hatte ich dann ein sonderbares Erlebnis: Bei einer Kletterfahrt sah ich einen meiner Freunde wie er ohne Seil in den Abgrund stürzte. Die Zeit schien plötzlich wie stehenzubleiben, und es war ein mir bis dahin völlig unbekannter tiefer Frieden in der Luft. Das Vogelgezwitscher verstummte. Nichts regte sich. Alles war still - bis ich den Aufprall hörte. Schnell begab ich mich hinab zu meinem Freund aber alle Wiederbelebungsversuche blieben ohne Erfolg. Er war tot.

Die nächsten Tage verbrachte ich mit ständigen Gedanken über den Sinn des Lebens. Ich tat mir schwer einen zu finden. Ich war gerade in meiner Ausbildung zum Feinmechaniker und seit einer Woche dabei, einen Hammerkopf zu feilen. Er wird aus einem besonders harten Stahl hergestellt. Anstatt Späne, staubt es nur ein wenig beim Feilen und so dauert es tagelang, bis man auch nur ein paar Millimeter weggefeilt hat. Diese Tätigkeit schien mir aufeinmal völlig sinnlos zu sein. Mir wurde bewußt, wie schnell das Leben zu Ende gehen kann und wie wertvoll das Leben ist. Ich fragte mich selbst, ob ich wirklich mein Leben bewußt lebe.  Dinge, die mir gewöhnlich Freude bereitet haben hinterließen in mir plötzlich eine gähnende Leere. Gleichzeitig hatte ich jedoch immer öfter eine Erfahrung von tiefer, innerer Stille. Das hat schon am Unfallort begonnen. Nachdem mir klar wurde, daß ich nichts mehr für meinen Freund tun konnte. Als die Sanitäter den regungslosen Körper auf einer Bahre davontrugen ging ich den Weg ein bißchen hinab um alleine zu sein. Auf einmal fühlte ich, daß es nichts mehr zu erreichen gab. Das ständige Hetzen und Treiben war vorbei. Es gab nichts mehr für mich zu tun. Ich schaute in die Natur, die Sonne dämmerte und in mir machte sich eine tiefe Ruhe breit. In den Wochen darauf beschäftigte ich mich immer mehr mit geistigen Dingen. Eines Tages ging ich an einem Plakat vorbei. Gerade noch aus meinem Blickwinkel konnte ich das Wort ZEN lesen. Ich war schon einige Schritte weitergegangen, als mich das Plakat wie magnetisch zurückzog. Eigentlich habe ich auf Plakate nie besonders geachtet. Dieses aber, mußte ich mir einfach aus der Nähe anschauen. Es wurde ein Vortrag über ZEN-Buddhismus angekündigt und ich wußte sofort: Da muß ich hin!

Eine Woche später war es so weit. Ich besuchte den Vortrag und war vollauf begeistert. Der Referent war unglaublich sympatisch. Mithilfe vieler humorvoller Geschichten erzählte er, wie sich der ZEN-Buddhismus ausbreitete. Heute fällt mir keine einzige dieser Geschichten mehr ein aber dennoch haben die Worte bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen. Ich wußte, daß der Vortragende seit vielen Jahren meditiert und er schien genau das zu haben, was ich suchte: Er war locker, spontan und witzig, hatte eine freudige Ausstrahlung und es war ihm anzusehen, das er mit seinem Leben glücklich war. Mein Interesse an Meditation wuchs schlagartig. Nach dem Vortrag erhielt ich eine Einladung zu einem wöchentlich stattfindenden Meditationskurs. Der Kurs war genauso wie der Vortrag kostenlos, was mir als Lehrling sehr entgegen kam. Ich konnte es gar nicht abwarten bis endlich der erste Kursabend heranrückte. Nach langem Suchen fand ich endlich den Ort, wo der Kurs stattfinden sollte. Dem Kursraum entströmte eine unglaublich angenehme Ruhe und ich fühlte mich unglaublich wohl. Wie nach einer langandauernden Reise, schien ich auf einmal am Ziel angekommen zu sein. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, fühlte ich mich völlig verstanden.

Der Kursleiter war kurzfristig verhindert und so kamen seine Frau und seine Tochter. Statt aber wie geplant den Meditationskurs abzuhalten, erzählten sie aus ihrem Leben mit Meister Sri Chinmoy. Für mich wurde es richtig spannend. Hatte doch auch der Referent schon so einige interessante Geschichten von Meistern berichtet. Als der Abend vorbei war und ich mich auf den Nachhauseweg machte, war mir klar, daß ich hier etwas unglaublich wertvolles gefunden hatte. Eine fast ekstatische Freude überkam mich und ich verspürte eine tiefe Dankbarkeit.

In der nächsten Woche kam der Kursleiter und führte uns in die faszinierende Welt der Meditation ein. Der Kern des Kurses bestand aus einigen wirkungsvollen Übungen, die wir auch jeden Tag zuhause ausführen sollten. Zudem erhielten wir an jedem Abend eine ganze Reihe von Lebensweisheiten. Sie waren direkt aus dem praktischen Leben und für mich sofort nachvollziehbar. Der Kurs war immer montags und so wurde der Montag mein „Feiertag“. Nicht daß ich an diesen Tag nicht in die Arbeit ging - nein, jeden Montag versuchte ich alles bewußter zu machen wie sonst. Im Kurs lernte ich verschiedene Konzentrations- und Meditationsübungen, die ich dann regelmäßig auch zuhause ausübte. Schon nach ein paar Wochen spürte ich wie die Meditation mein Leben veränderte. Ich sah auf einmal alles aus einer anderen Perspektive, alles viel positiver. Auch spürte ich, wie sich nach und nach eine tiefe innere Freude in mir ausbreitete. Dazu muß ich sagen, daß ich von Natur aus ein eher zwiederer Zeitgenosse war. Freude also nicht gerade zu meinen herausragendsten Eigenschaften zählte. Umso schöner war für mich diese Erfahrung von Freude. Ganz alleine begann sie aus dem Inneren zu strömmen, wenn ich es nur schaffte meinen Verstand für eine Zeit lang ruhig zu halten.

Zuerst übte ich einmal am Tag etwa fünfzehn Minuten, später dann zweimal am frühen Morgen und am Abend. Nach ein paar Wochen bemerkte ich, wie mir diese Art von geistiger Nahrung zum Bedürfnis wurde. Die Ausgeglichenheit und Freude fehlte mir, wenn ich mal wieder verschlafen hatte und ohne Meditation zur Arbeit eilte. Andersherum konnte mein Tag gar nicht mehr schief laufen wenn ich meine Morgenmeditation „erhalten“ hatte. Mit einem zufriedenen Lächeln fuhr ich dann jedesmal mit der U-Bahn zur Arbeitsstelle. Dankbar, schon den Morgen glücklich beginnen zu dürfen.